Kultur

Geburt, Liebe & Tod: Dreiteiliger Strawinsky-Abend im Wuppertaler Opernhaus

Rekonstruktion eines Pina Bausch-Werks


(Quelle: Pina Bausch Foundation)
GDN - Der dreiteilige Strawinsky-Abend “Frühlingsopfer“ war seit weit mehr als 30 Jahren nicht mehr auf der Bühne zu sehen. Anlässlich der Jubiläumsspielzeit des “Tanztheaters Pina Bausch“ wurde dieser, in einer internationalen Kooperation, in seiner ursprünglichen Form rekonstruiert.
Am 3. Dezember 1975 fand im Opernhaus Wuppertal die Uraufführung des Strawinsky-Abends “Frühlingsopfer“ statt. Während der dritte Teil des Abends “Das Frühlingsopfer / Le Sacre du printemps“ bis heute eines der am häufigsten aufgeführten Stücke aus dem Bausch-Oeuvre darstellt, sind die ersten beiden Teile des Abends fast in Vergessenheit geraten. Ein fachkundiges und idealistisches Team hat sich an die Arbeit gemacht und den Abend in seiner ursprünglichen Version mühevoll rekonstruiert. Realisiert werden konnte das Projekt als internationale Kooperation mit der Juilliard School in New York und der Essener Folkwang Universität der Künste.
Beide Institutionen waren äußerst bedeutend für den künstlerischen Werdegang von Pina Bausch. An der Folkwang Schule absolvierte sie in den 1950er Jahren ein Studium für Bühnentanz und Tanzpädagogik und ab 1959 besuchte sie die Juilliard School in New York. Das Folkwang Tanzstudio leitete sie von 1968 bis 1973 und von 1983 bis zu ihrem Tod im Jahre 2009. Somit spiegelt der Abend gewissermaßen auch den Werdegang der großen deutschen Choreografin wieder.
Dominique Mercy
Quelle: Mario Graß
Die künstlerische Leitung der Rekonstruktion hat Dominique Mercy, ein Pina Bausch Tänzer der ersten Stunde, übernommen. Auch die Proben wurden von ehemaligen Tänzern des “Tanztheaters Pina Bausch“, wie Josephine Ann Endicott, John Giffin, Vivienne Newport, Malou Airaudo, Barbara Kaufmann und anderen, geleitet. Bereits seit Februar werde geprobt, berichteten die Beteiligten, denen die ungeheure Leidenschaft für dieses Projekt deutlich anzumerken war, während eines Pressegespräches. In alter Pina Bausch-Manier stellte Barbara Kaufmann einige Tage vor der Premiere fest: “Wir sind nicht fertig “¦ wir sind eigentlich nie fertig “¦ aber wir sind bereit!“
Vivienne Newport & John Giffin
Quelle: Mario Graß
Im ersten Teil des Abends “Wind von West“ tanzten, gemeinsam mit Studierenden aus Essen, acht Tänzer der New Yorker Juilliard School. Diese hatten ihren Part im fernen New York einstudiert. Erst wenige Tage vor Beginn der Aufführung in Wuppertal konnten die Tänzer zusammengeführt werden. Probeleiter John Giffin machte sich über die Zusammenarbeit mit den neuen Tänzern jedoch wenig Sorgen: “Irgendwie sind doch alle Tänzer auf der Welt gleich. Sie haben diese besondere Energie, Optimismus, Humor und sind alle irgendwie verrückt“.
Dominique Mercy, Salomon Bausch & Malou Airaudo
Quelle: Mario Graß
Die Pina-Bausch-Stiftung hat das Projekt maßgeblich vorangetrieben. Nicht zuletzt, da die Rekonstruktion als zukunftsweisend für den weiteren Umgang mit dem im Entstehen begriffenen Pina Bausch-Archiv anzusehen sei. Schon bald nach dem Tod seiner Mutter, hatte Salomon Bausch den Plan, den die Choreografin noch zu Lebzeiten gefasst hatte, umgesetzt: Er gründete die »Pina Bausch Stiftung«, zur »verantwortlichen Verwaltung und Weitergabe des künstlerischen Vermächtnisses“ seiner Mutter.
Seit einigen Jahren sammelt, sichtet und ordnet das Pina Bausch Archiv eifrig persönliche Aufzeichnungen von Pina Bausch, Fotografien, Videos, Pläne oder Pressematerialien. Eine immense Arbeit, die bei dieser Produktion zu konkreten Resultaten führte. So habe beispielsweise das Bühnenbild zu “Wind von West“ nicht mehr existiert und musste auf Grundlage diverser Hinweise mühsam rekonstruiert werden.
Die Zusammenstellung eines Archivs ist immer auch ein Wettlauf gegen die Zeit. So müssen zum Beispiel alternde Filmaufnahmen dringend digitalisiert werden, bevor der Qualitätsverlust allzu schwerwiegend wird. Noch sind zahlreiche Tänzer und Tänzerinnen aus den Anfangsjahren aktiv. Sie können befragt werden oder - wie im Fall des Strawinsky-Abends - sogar unmittelbar in die Probearbeit eingebunden werden. Auch deshalb lag dieses Projekt den Akteuren so sehr am Herzen. “Wenn wir es jetzt nicht machen, geht es für immer verloren.“
Doch neben all diesen Gesichtspunkten, wohnte der Rekonstruktion des Strawinsky-Abends selbstverständlich auch noch ein ganz eigener, nahliegenden Reiz inne, der für große Spannung im ausverkauften Opernhaus sorgte. Selbst für die allermeisten Tanzinteressierten galt, was Salomon Bausch einige Tage vor der ersten Aufführung sagte: “Ich habe es selber noch nie gesehen.“
"Das Frühlingsopfer" gilt als Bauschs letztes traditionell durchchoreografiertes Stück. Erst in der folgenden Produktion brach sie endgültig mit den hergebrachten Tanzformen. Fortan sollte es keine Vorgaben, hinsichtlich Handlung oder Musik, geben. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass zur damaligen Zeit, das “Frühlingsopfer“ als konventionelle Produktion anzusehen war.
Wind von West
Quelle: Ulli Weiss
Die “Cantata“ von Strawinsky, die musikalische Grundlage zum ersten Teil des Abends (“Wind von West“), hätte außer Pina Bausch wohl niemand mit Tanz in Verbindung gebracht. Ein mystisches Stück, mit meditativer Wirkung. Ruhig bewegen sich die Tänzer über die Bühne, bilden gelegentlich Standbilder in verschiedenen Konstellationen. Ein bemerkenswertes, düsteres Bühnenbild, nutzt die ganze Tiefe des Raumes und verleiht dem Stück etwas traumhaftes.
Der zweite Frühling
Quelle: Ursula Kaufmann
“Der zweite Frühling“, das zweite Stück des Abends, verströmt eine gänzlich andere Atmosphäre. Mit einer guten Prise Humor wird die Geschichte eines alten Ehepaares erzählt, das am Abendbrottisch beisammensitzt. Man ist sich vertraut. Handlungsmuster wurden im Verlaufe der Jahrzehnte ritualisiert. Doch dann tauchen Erinnerungsmomente auf: Der Mann als junger Draufgänger, der im wahrsten Sinne des Wortes “über Tische und Bänke“ geht und die feurige, verliebte junge Frau. Ein Stück voller Komik und Melancholie.
Das Frühlingsopfer
Quelle: Ulli Weiss
“Das Frühlingsopfer“ beschließt den Abend. Es basiert auf der dritten der drei großen Ballettmusiken, die Igor Strawinski vor dem Ersten Weltkrieg komponiert hat. Aufgrund seiner außergewöhnlichen rhythmischen Strukturen und seiner zahlreichen Dissonanzen erregte es beim Publikum überwiegend Missfallen. Ähnlich erging es auch Pina Bausch bei der Uraufführung 1975, denn der Anblick von Tänzern, die von einem Gemisch aus Schweiß und Erde bedeckt waren, als sie sich zum Schlussapplaus verbeugten, hat damals noch verstört. So stellte man sich keine Ballerina vor.
“Das Frühlingsopfer“ ist ein Stück, das den Tänzern alles abverlangt. Der Bühnenboden ist mit dunklem Torf bedeckt. Den gewaltigen rhythmischen Energien von Strawinskys Musik, hat Pina Bausch eine ebenso vor Kraft strotzende Form zu geben verstanden. Die Wucht des Stückes ist auch heute - nach fast 40 Jahren - noch ungeheuerlich. Beim frenetischen Jubel, der im Opernhaus ertönt, nachdem Tsai-Wie Tien ihren rauschhaften Opfertanz beendet hat, sieht man den jungen Tänzerinnen und Tänzern ihre Erschöpfung deutlich an. Zurecht werden sie minutenlang gefeiert.
Wohl für alle Anwesenden ist es faszinierend und berührend diesen Abend zu erleben, ganz weit in die Vergangenheit, zu den Ursprüngen des modernen Tanztheaters, zurückzukehren und die drei Stücke im Zusammenhang zu sehen. In Pinas persönlichen Aufzeichnungen hat man drei Worte gefunden, mit denen sie selbst die drei Teile beschrieben hat: Geburt - Liebe - Tod.
Quelle: Mario Graß
Doch das Eintauchen in die Vergangenheit ist sicherlich nicht der einzige bemerkenswerte Aspekt an diesem Abend. Auch wenn es sich um vergleichsweise alte Stücke handelt, so sind es aber neue, junge Tänzer, die diese vor einem neuen Publikum präsentieren. Das Resultat sollte die Protagonisten in Wuppertal ermutigen Neues zu wagen. Pina Bauschs Stücke besitzen auch heute noch solch eine Kraft, dass man sie getrost in “junge Hände“ legen kann.

weitere Informationen: https://www.pina40.de

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